Eigentlich habe ich nichts gegen das Schreiben. Einige der bedeutendsten Dichter haben – und ich wäre der letzte, der das leugnet – geschrieben. Shakespeare beispielsweise oder – warum nicht – Flaubert oder, natürlich, Goethe. Alles Männer, die ich schätze, verehre, ja liebe. Vor allem deswegen, weil mir keiner von ihnen jemals mit beiläufig bohrendem Blick zu verstehen gegeben hat: »Bist du eigentlich schon dazu gekommen, mein letztes Buch zu lesen?«
Wie anders in unseren Kreisen. Da schreibt nicht nur jeder, da erwartet auch jeder von uns, von jedem von uns gelesen zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist jedem jedes Mittel recht, und so stapeln sich jeden Herbst bei jedem von uns die handschriftlich dedizierten Neuerscheinungen der anderen – was tun? Sie lesen? Dann käme man ja nicht mehr zum Schreiben. Also läßt jeder von uns den Bücherstapel auf sich beruhen und beschränkt sich darauf, während der ersten Zusammentreffen – im Rahmen der Buchmesse etwa – dem anderen zu versichern, er, der Versichernde, könne noch nichts über dessen neues Buch sagen, freue sich jedoch schon darauf, gerade dieses Werk so bald wie möglich und vor allem in größtmöglicher Ruhe zu studieren – eine Versicherung, in die der andere meist verdächtig erleichtert miteinstimmt: Ja! Genau so verhalte es sich mit dem Buch seines Gegenübers, für dessen Übersendung er übrigens herzlich danke. »Ganz meinerseits – wir hören also voneinander!« – »Aber klar!«
Einen Monat lang höre und sehe ich nichts von ihm, ein zweiter Monat vergeht, ohne daß sich unsere Wege kreuzen, da, der dritte Monat ist kaum verflossen, sitzt er unübersehbar an einem fast leeren Tisch im »Cannelloni-Karl«. Flucht wäre zwecklos. Angriff ist die beste Verteidigung, furchtlos lasse ich mich ihm gegenüber auf den Stuhl fallen.
»Na?«
»Na ja«, erwidert er. »Kalt heute, wie?«
Aha! Diese Schiene also! Na gut, reden wir über das Wetter. Hätte er mein Buch gelesen, müßte er zwar nicht zu derart fadenscheinigen Ersatzthemen Zuflucht suchen, aber was soll’s. Ich habe sein Buch schließlich auch nicht gelesen, also sind wir quitt. Keine Zweideutigkeiten, keine Peinlichkeiten, halten wir uns an meteorologische Eindeutigkeiten: »Ja, ziemlich kalt, und das mitten im Winter!«
»Tja …«
Erstmals fällt mir seine niedrige Stirn auf. Bisher hatte ich sie immer als mutwillig vorgezogenen Haaransatz interpretiert, doch jetzt, im grellen Licht der Wirtshauslampen, ist kein Zweifel möglich – die Stirn ist einfach nicht höher. Und wie tief die Schweinsäuglein im wulstigen Schädel liegen. Sieht der überhaupt etwas? Kann der überhaupt erkennen, wer da vor ihm sitzt, der Autor von »Glück Glanz Ruhm« nämlich?
»Norbert …«
Na ja – grobe Umrisse scheint er noch wahrnehmen zu können. Ich heiße Norbert, und er nennt mich Norbert. Also hat er eine Antwort verdient.
»Ja?«
»Ich habe übrigens dein Buch gelesen …«
Ach – hat er das? Erstaunlich, wie er während dieser Worte seinen Haaransatz zurückweichen läßt. Warum muß er den aber auch immer so tief ins Gesicht furchen? Ein oberflächlicher Betrachter könnte aus dieser Marotte auf eine niedrige Stirn schließen, während sie doch –
»Ja. Und ich hatte bereits während der ersten Seiten ein gutes Gefühl …«
Mißtrauisch mustere ich seine Züge. Doch in seinem offenen, ja strahlenden Gesicht ist kein Falsch.
»Ach ja?«
»Ja, durchaus. Ich halte es ehrlich gesagt für dein bestes.«
Es ist mein bestes, kein Zweifel. Nie habe ich inspirierter geschrieben, nie die Inspiration unnachsichtiger der Kontrolle rigorosesten Kunstverstands unterworfen. Das Ergebnis konnte nichts anderes als ein großer Wurf werden, doch es ist eine Sache, das selber zu wissen, und eine andere, es von einem hochgebildeten Leser, einem Kollegen der schreibenden Zunft gar, bestätigt zu bekommen. Wie hieß noch mal dessen letztes Buch?
»Deine früheren Bücher, Norbert, waren auch nicht schlecht …«
Nein, das waren sie bei Gott nicht. Sie waren gut, sehr gut sogar, aber –
»… aber ich finde, du bist weitergekommen. Dein neues Buch ist – laß es mich so sagen – komplexer.«
Ich lasse ihn. Warum soll er das nicht sagen dürfen? Er ist schließlich ein freier Mann in einem freien Land, der von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch macht. Von mir aus könnte er stundenlang so weiterreden, so frei, so sachlich, so kundig. Doch plötzlich schweigt er. Sein offener Blick begegnet meinem. Etwas Hilfloses glaube ich in ihm zu entdecken, etwas Hilfeheischendes fast. Fehlen ihm etwa die Worte? Erwartet er von mir, daß ich ihm bei der Suche helfe? Nun rede ich offen gestanden nicht gern über meine Bücher, doch in diesem Fall mußte es wohl sein.
»Tja«, sage ich zögernd, »also, was das letzte Buch betrifft …«
»Ja? Hast du es gelesen?«
Wie denn nicht? Ich habe es schließlich geschrieben. »Ja natürlich«, sage ich etwas verwirrt.
»Und?« fragt er, sich vorbeugend. »Wie fandest du es?«
O Gott, er meint sein Buch. Wie finde ich denn sein Buch? Ich weiß ja nicht einmal, wie es heißt.
»Nun ja«, beginne ich vorsichtig, »du hast zweifellos viel riskiert …«
Ein guter Anfang. Daran hat er erst mal zu knabbern. Forschend, aus etwas verengten Augen schaut er mich an, während ich fieberhaft nach Anhaltspunkten suche. Arbeitete er nicht seit Jahren an einer Trilogie? Waren nicht bereits zwei Bände erschienen? Ging es da nicht um den Nachtportier eines großen Frankfurter Hotels, der langsam durchdrehte? Und hatte nicht die Kritik an den ersten beiden Folgen vor allem gelobt, daß da endlich einmal Arbeitswelt thematisiert werde, Selbstentfremdung, Anonymität der Massengesellschaft, all der Scheiß? Wenn mir nur noch einfiele, wie die Hauptfigur heißt!
»Mein erster Eindruck war, da sitzt jeder Satz«, sage ich aufs Geratewohl. Er lehnt sich zurück, doch seine Augen bleiben prüfend auf mich gerichtet. Na gut. Er hat mein Buch gelesen, also habe ich auch sein Buch gelesen.
»Gegen Ende wird es sehr stark. Obwohl die Mitte fast noch eindringlicher ist. Und erst der Anfang!« rede ich weiter, da er immer noch kein Wort sagt. Erwartet er etwa Details?
»Fandest du nicht, daß die Ägypter etwas zu schlecht weggekommen sind?« fragt er fast ängstlich.
Die Ägypter? Welche Ägypter denn? Wahrscheinlich irgendwelche Hotelgäste.
»Nein, nein«, versichere ich. »Ich fand die Ägypter sehr genau getroffen. Keine Spur überzeichnet. Man sieht sie direkt vor sich.«
»Aber was ich über die Fellachen sage …«
»Völlig nachvollziehbar. Ich meine …«
Fellachen? Ägyptische Bauern im Frankfurter Nobelhotel? Gäste der Landwirtschaftsmesse? Oder Angehörige einer Bauchtanzgruppe? Auf jeden Fall ein Problem für einen nervenschwachen Nachtportier. Wie hieß der Typ denn noch mal?
»Ich meine …«
Kernbeißer? Kernmeyer? Steinbrenner?
»Ich meine, da wäre jeder andere auch durchgedreht, nicht nur dieser, dieser …«
»Durchgedreht? Wer denn?«
»Na dieser …«
Wie komme denn ich dazu, ihm zu erzählen, wer in seinem Roman durchdreht? Wenn jemand das weiß, dann doch er, er hat ihn schließlich geschrieben.
»Na, du weißt schon …«, sage ich tastend, »der … der Dingens. Immer dieser Streß, und dann die Ägypter und diese ganzen anderen Fellachen, die mitten in der Nacht noch … also das mit dem Bauchtanz, das mußte ja dann dem … dem …«
Wie klein seine Augen plötzlich wieder wirken. Fast finster. Warum komme ich denn nicht auf den Namen?! Staubbeutel? Strapshalter? Schwanthaler? Schwanthaler! Na endlich!
»Das mußte doch dem Schwanthaler den Rest geben. Sehr gut nachzuvollziehen. Ich meine, wer das nicht nachvollziehen kann, der sollte in Fragen anspruchsvoller Literatur in Zukunft bitteschön den Mund halten. Das Nachvollziehbarste, was du je geschrieben hast. Ehrlich!« Mein Gegenüber nippt geistesabwesend am Apfelwein.
»Findest du?« fragt er schließlich.
Habe ich irgendwas falsch gemacht? Egal. Jetzt muß ich da durch.
»Ja, finde ich. Du kennst mich ja – ich bin nicht der Typ, der jeden Text ohne weiteres nachzuvollziehen bereit ist. Doch die Art und Weise, wie du es den Scheichen gegeben hast – das mußte auch ich nachvollziehen, ob ich wollte oder nicht. Hundertprozentig.«
Bin ich zu weit gegangen? Nein, alles in Ordnung. Mein Gegenüber lächelt. Ein bösartiger Beobachter könnte es auch ein Grinsen nennen.
»Das bringt mich übrigens noch mal auf dein Buch«, sagt er.
Na endlich! Rede weiter, du redest gut!
»Bei deinem Text fiel es mir offen gestanden schwer, die Personen nachzuvollziehen –«
Welche Personen denn? Mein Buch enthält ausschließlich Essays zur Kunst.
»Bis auf den Briefträger natürlich. Wie der den Hund ins Bein beißt, weil der sich weigert, die Empfangsbestätigung für den Einschreibebrief zu unterzeichnen, in welchem ihm mitgeteilt wird, er habe sich bei Ausbruch des Dritten Weltkriegs unverzüglich als Minensuchhund beim Kreiswehrersatzamt Köln-Kalk zu melden, andernfalls er mit seiner standrechtlichen Ersäufung im Lehrtrinkbecken des Alkoholikerheims ›Stramme Fahne‹ zu rechnen habe, und wie dann das Herrchen des Hundes, also du, sein Taschenmesser entsichert und sich mit dem Ruf ›Kirschwasser für Canitoga!‹ auf den entmenschten Briefträger stürzt, das ist derart nachvollziehbar, daß –«
Das war der Moment, an welchem auch ich mich auf mein affenartiges Gegenüber stürzen wollte und daran einzig durch den Umstand gehindert wurde, daß er viel größer und böser war als ich.
Anderntags angestellte Erkundungen ergaben übrigens, daß es sich bei dem Buch meines Gesprächspartners allem Anschein nach um die Beschreibung einer Ägyptenreise handelte, welche er mit Unterstützung des Goethe-Instituts hatte unternehmen können.
Wieso dieses Institut, immerhin Träger eines nicht ganz unbekannten Namens, es gewagt hatte, einem uralten Kulturvolk wie den Ägyptern auf Kosten der kleinen Sparer einen derartigen Vertreter des angeblich geistigen Deutschlands vorzusetzen, dürfte wohl auch dem gutwillig mit der Materie Befaßten nur schwer nachvollziehbar sein. Ich finde, jemand sollte mal etwas darüber schreiben.
Aus: Es gibt kein richtiges Leben im valschen, S. 71–78
Weimar 1791. In seinem graugebeizten Studierzimmer sitzt Friedrich von Schiller und starrt auf ein Papier, das vor ihm neben dem Rauchverzehrer liegt. Starrt und läßt sich die Worte durch den Kopf gehen, die er wohl tausendmal gelesen hat: »… wäre es schön, wenn Sie den Geheimrat Goethe ermorden täten. 15 Dukaten könnte ich dafür lockermachen. Hochachtungsvoll Mozart.«
Goethe ermorden – ein entsetzlicher Gedanke! Einerseits. 15 Dukaten sind eine Menge Geld! Andererseits. Besonders, wenn man Professor ist und ein hungriges Maul zu stopfen hat. Und die Frau in der Küche brüllt. Vor Durst. 15 Dukaten …! Aber dafür einen Mord begehen? Noch dazu an Goethe?
Er steht auf. Steht auf und schaut durch das Schiebefenster. Da unten hastet das fröhliche Völkchen der Weimaraner durch die Gasse. Der kleine, dicke Hölderlin immer mittenmang. Ja, die haben es gut. Und er?
Er wendet sich wieder dem Brief zu. Goethe ermorden … Es wäre ja so einfach. Man könnte ihn ja unter irgendeinem Vorwand auf den Kölner Dom locken und den Turm vorher ansägen – nachher würde es wie ein Unfall aussehen, und die 15 Dukaten … Fünfzehn Dukaten! Dann hätte die Schinderei endlich ein Ende. Das ewige Dichten und Trachten. Was er im letzten Jahr wieder zusammengetrachtet hatte … Er schaudert. Und wofür? Für nichts und wieder nichts. Und das war verdammt wenig.
»Tu’s doch, tu’s doch«, flüstert ihm eine innere Stimme zu.
»Ich denke nicht daran«, entgegnet er barsch.
»Na, dann eben nicht«, kreischt die innere Stimme.
Wie stickig es in der Stube ist! Man könnte ja auch – da waren sie wieder, diese Gedanken! Man könnte Goethe ja auch einen vergifteten Stiefelknecht schicken, und dann … Aber so ein Stiefelknecht kostete Geld. Viel Geld. 25 Dukaten mindestens … Andererseits ging es schließlich um Goethe. Um seinen besten Freund … Goethe! Was der im Moment wohl gerade tat? Vielleicht holte er just sein Versmaß vom Hängeboden, eine ungeschickte Bewegung, es entgleitet seinen Händen und begräbt den Geheimrat unter si …
»Papperlapapp!« Da war sie wieder, die innere Stimme!
»Willst du denn nie Ruhe geben?« schreit er sie an. »Mach ich!« lautet die Antwort.
Macht sie. Und was macht er? Er starrt immer noch auf das Papier.
»Hochachtungsvoll Mozart.« Mozart – das sah ihm ähnlich. Erst den ›Don Giovanni‹ und nun dies. Aber … Mord? »Mord? Das ist überhaupt nicht drin, Verehrtester«, ruft er seinem imaginären Gegenüber zu. Und setzt sich.
Wie leicht ihm auf einmal um’s Herz ist! Die Frau in der Küche ist auch still geworden. Hat wohl etwas zu trinken gefunden.
Schau her! So ging’s also auch. Er lächelt, und da fällt sein Blick noch einmal auf den Brief. Fällt auf das P. S., das er bis dahin überhaupt nicht beachtet hatte: »P. S. Könntest du mir 20 Dukaten pumpen?«
Pumpen! Na! Da könnt’ ja jeder kommen! Alsdann!
Und lachend holt er die »Ode an die Freude« aus der Schublade. Wo waren wir noch mal stehengeblieben? Götterfunken …?
Aus: Über alles, S. 382 f.